Aktuelle Herausforderungen im Gashandel

– Point of View

Andreas Schwenzer, Juni 2023

Das Umfeld auf dem europäischen Gasmarkt gestaltet sich weiterhin sehr anspruchsvoll. Nachdem die Preise im vergangenen Jahr stark angestiegen sind, ist das Niveaus seit August 2022 wieder deutlich gefallen aber weiterhin hoch. Aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten der Absicherung flexibler Mengen rückt das Management von Mengenrisiken verstärkt in den Fokus. Für die Zusammenstellung des Portfolios sollten unterschiedliche Instrumente sinnvoll kombiniert werden. Das hochfrequente Management von Prognosen und Positionen ist zur erfolgreichen Umsetzung einer Chancen-Risiko-Strategie essentiell.

 

Aktuelles Marktumfeld

Die durch den russischen Angriff auf die Ukraine angespannte geopolitische Situation hat sich deutlich auf die Entwicklung der europäischen Gaspreise ausgewirkt. Am wichtigsten europäischen Handelspunkt TTF sind die Gaspreise – hier am Beispiel eines Jahresproduktes für das Kalenderjahr 2024 von knapp 17 EUR/MWh Anfang Juni 2021 auf einen Spitzenwert von über 200 EUR/MWh im August 2022 gestiegen. Seitdem sind die Preise wieder deutlich gefallen befinden sich aber mit aktuell um die 50 EUR/MWh immer noch auf dem dreifachen Niveau der Vorkrisenpreise.

Abbildung 1: Gaspreisentwicklungen Juli 2021 bis April 2023. ICE Index, Niederländische TTF-Erdgas-Futures. 1ICE Endex, 2023. Dutch TFF Natural Gas Features.

 

Zur preislichen Erholung haben verschiedene Effekte beigetragen. Auf der Angebotsseite konnte die deutliche Reduktion der Lieferungen aus Russland durch zusätzliche Importe aus anderen Ländern und insbesondere zusätzlichen LNG-Import teilweise kompensiert werden.

 

Abbildung 2: Erdgasimporte der OECD Europa durch Pipelines und LNG. 2IEA, 2023a. Gas Market Report, Q2-2023

 

Auf der Nachfrageseite führten der relativ milde Winter und deutliche Einsparungen bei privaten und industriellen Verbrauchern zu einer deutlichen Nachfragereduktion.

 

Abbildung 3: Ursachen für die Veränderungen der Erdgasnachfrage in den Bereichen Strom, Gebäude und Industrie in der Europäischen Union, 2022 gegenüber 2021. 3IEA, 2023b. Europe’s energy crisis: What factors drove the record fall in natural gas demand in 2022?

Nachdem zum Ende der Heizsaison 2021/2022 die Speicherfüllstände in der Europäischen Union extrem niedrig waren, wurden die Speicher im Sinne der Krisenvorsorge im Sommer 2022 stark befüllt und die Füllstände waren zum Ende der Heizsaison 2022/2023 nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau.

 

Abbildung 4: Die Lagerbestände lagen zum Ende der Heizperiode 2022/23 deutlich über dem Fünfjahresdurchschnitt. 2IEA, 2023a. Gas Market Report, Q2-2023

 

Unsicherheitsfaktoren

Aus dem dargestellten Marktumfeld ergeben sich direkt bereits einige wesentliche Unsicherheitsfaktoren:

  • Künftige Liefermengen russischen Erdgases
  • Verbrauch in der Europäischen Union
  • LNG-Nachfrage auf dem Weltmarkt

Trotz der Tatsache, dass die Lieferungen russischen Gases bereits vor der Zerstörung von Nord Stream I eingestellt waren, kamen und kommen über andere Pipelinerouten nach wie vor signifikante Mengen russischen Erdgases in die Europäische Union. Im Jahr 2022 betrug der Importanteil aus Russland immer noch knapp ein Viertel des Verbrauchs. 5Consilium, 2023. Where does the EU´s gas come from? Eine weitere Reduktion der Lieferung würde die Knappheit auf dem europäischen Gasmarkt weiter verstärken.

Wie oben gezeigt ist der Verbrauch in der Europäischen Union deutlich zurück gegangen. Bei dem nichttemperaturabhängigen Verbrauch bleibt abzuwarten, wie sich das Verbrauchsverhalten – insbesondere vor dem Hintergrund derzeit wieder deutlich niedrigerer Spot- und Terminmarktpreise – weiterentwickelt und ob das Reduktionsniveau vorerst aufrechterhalten werden kann. Hinzu kommt die Unsicherheit der Temperaturentwicklung im kommenden Winter, die deutlichen Einfluss auf die Nachfrage haben wird.

Als dritter Unsicherheitsfaktor wird die LNG-Nachfrage auf dem Weltmarkt deutliche Auswirkungen auf die europäischen Möglichkeiten haben, wegfallendes Pipelinegas wieder im großen Umfang durch LNG-Importe zu kompensieren. Hier sei darauf verwiesen, dass zusätzliche langfristige Importverträge für LNG erst in einigen Jahren zu Lieferungen führen und dass im vergangenen Jahr die Nachfrage aus dem asiatischen Raum – insbesondere durch die gebremste chinesische Konjunktur – moderat war. Hier ist grundsätzlich mit Nachholeffekten zu rechnen, die zur Verknappung beitragen können, so dass LNG nur zu relativ hohen Preisen auf dem Spotmarkt erhältlich wäre. 6Russell, C. 2023. Column: Spot LNG price drops to level that‘s not too hot, not too cold

 

Werkzeugkasten der Beschaffungsinstrumente

Auf der Beschaffungsseite bedeutet dieses Marktumfeld weiterhin eine herausfordernde Situation. Positiv ist hervorzuheben, dass sich durch die Liefereinstellungen im vergangenen Jahr die wesentlichen Liefer- bzw. Kontrahentenrisiken bereits materialisiert haben dürften. Das Marktumfeld ist jedoch weiterhin von einer hohen Preisunsicherheit geprägt. Fixe Mengen sind im Terminmarkt grundsätzlich handelbar, jedoch haben die Anforderungen an Sicherheiten deutlich zugenommen, so dass sich die meisten Marktteilnehmer weiter im Spannungsfeld zwischen Markt-, Kredit- und Liquiditätsrisiken bewegen müssen. Das Angebot an Lieferverträgen mit Mengenflexibilitäten ist deutlich zurück gegangen.

Neben den inhärenten temperaturbasierten Mengenrisiken sind bei der Belieferung von Endkunden auch die verhaltensbasierten Mengenrisiken weiterhin groß. Hinzukommt die Herausforderung, Mengen für Kunden zu beschaffen, die vertraglich nicht fest gebunden sind bzw. kurze Kündigungsfristen haben (z. B. in der Grundversorgung) oder durch das Verhalten des Wettbewerbs in die Grundversorgung fallen können. Die hiermit verbundenen Mengenrisiken sind bei der Preisfindung in Form von auskömmlichen Risikoaufschlägen angemessen zu berücksichtigen.

Als neue Beschaffungsinstrumente kommen u. a. die Plattform für die gemeinsame europäische Gasbeschaffungen sowie die Nutzung neu entstandener LNG-Importmöglichkeiten in Frage. Der Wegfall von vertraglichen Flexibilitäten kann durch die verstärkte Nutzung kurzfristiger Kapazitäten oder ggf. den Einsatz von Speichern kompensiert werden. Wichtig hierbei ist eine möglichst hohe Genauigkeit der Mengenprognose und eine permanente Nachsteuerung des Beschaffungsportfolios, um unnötige Risiken zu vermeiden.

Conclusio

Zur zielgenauen Steuerung des Portfolios ist eine klare Definition der Chancen-Risiko-Strategie in ganzheitlicher Sichtweise unter Einbezug des Verbrauchs- bzw. Absatzportfolios notwendig. Neben der Frage der Durchsetzung angemessener Risikoaufschläge ist hier vor allem der Umgang mit offenen Positionen und ansonsten ein striktes Management der Fristenkongruenz notwendig.

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      ICE Endex, 2023. Dutch TFF Natural Gas Features.
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      IEA, 2023a. Gas Market Report, Q2-2023
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      IEA, 2023b. Europe’s energy crisis: What factors drove the record fall in natural gas demand in 2022?
    • 4
      IEA, 2023a. Gas Market Report, Q2-2023
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      Consilium, 2023. Where does the EU´s gas come from?
    • 6
      Russell, C. 2023. Column: Spot LNG price drops to level that‘s not too hot, not too cold

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